Geschichte eines Rückzuges, dem wahren Leben nacherzählt
»Das ist das Ende! Fertig! Denen ist eh egal, was mit mir passiert. Keiner wird mir nachweinen. Schad ist es nicht um den, werden sie denken. Dieser Verbrecher! Für mich gibt es jetzt nichts mehr zu tun. Fernsehen? Auf der Couch rumliegen? Im Wald Holz hacken? Mich mit dem Vater anöden? Oder der dummen Resi? Im Gefängnis sitzen? Nein, nein – da ist es schon besser so. Aus und vorbei.« Nun war es nicht mehr weit. Von der kleinen Anhöhe aus, die er gerade erklimmen wollte, konnte man einen beschaulichen und freundlichen Blick ins Tal werfen. Sofern man wollte und in Stimmung dazu war. Sein Heimatort lag dort im milden Herbstlicht. Es waren nur ein Haufen ärmlicher Häuser – aber es war seine Welt. Hier hatte er einen Großteil seines bisherigen Lebens verbracht. Hier war er aufgewachsen, zur Schule gegangen. Hier war er zum »irren Bomber« geworden, wie ihn die Presse nannte. Hier würde er sterben.
Niemand war in seinem Dorf zu sehen. Nach der Großaktion am Vormittag im wenige Kilometer entfernten Gemeindesitz waren die Straßen und Wege wie leer gefegt. Die meisten waren wieder zur Arbeit gegangen oder machten ihre Wochenendeinkäufe. Wäre er ihre Namen einzeln durchgegangen – er hätte von den meisten sagen können, wo sie sich wahrscheinlich gerade aufhielten. Hier kannte jeder jeden. Er glaubte es zumindest.
H. war mit seinen zweiundzwanzig Jahren das Musterexemplar eines einfachen Dorfbewohners. Kräftig, ein wenig hager, aber sonst gut gebaut, eins fünfundachtzig groß, schwarze Haare, dunkle, tiefe Augen. Eigentlich ein Kerl wie aus dem Bilderbuch für bajuwarische Ureinwohner – stark und unerschütterlich. Sollte man meinen. Warum hatte der junge Bursche nur noch wenige Minuten zu leben? Der idyllisch gelegene Weiler mochte Sicherheit und Geborgenheit ausstrahlen, ganz anders als die Großstadt. Und doch brodelte in beiden das gleiche gierige Leben, geschahen die gleichen ungeheuerlichen Dinge, vollzog sich das gleiche unverständliche Werden und Vergehen.
Er war körperlich fit. Aber der zwei Kilometer lange Anstieg hatte ihn angestrengt. Er atmete schwer, als er sein Ziel, eine Wiese kurz unter dem Grat der Anhöhe, erreichte. In der linken Hand hielt er sein Feuerzeug. Vor seinem Bauch hing eine mit Schwarzpulver gefüllte Gaskartusche, festgeschnallt mit dem schwarzen Ledergürtel, den er von Tante Resi bekommen hatte. Beim Gehen hatte ihn die Tragekonstruktion behindert. Er ärgerte sich, weil ihm keine bessere Lösung eingefallen war. Eigentlich war ihm seit einem halben Jahr klar, dass es so kommen würde. Den Platz, an dem alles enden sollte, hatte er sich schon lange ausgesucht. Warum hatte er nicht daran gedacht, wie sehr die Kartusche beim Bergangehen stören würde? Mit einem kräftigen Ruck drehte er sie nach rechts, wie einen Riesenrevolver, und setzte sich auf die feuchte, kalte Wiese – das Gesicht dem Tal, seinem Dorf zugewandt. Er legte die Arme um die Knie und wartete, dass sich sein Puls beruhigte.
Er hatte schon immer gerne in seinen Körper hineingehorcht. Früher, als er noch allein die Wälder durchstreift hatte, war er manchmal unvermittelt, einem inneren Trieb folgend stehen geblieben und hatte gelauscht. Zuerst auf die Stimmen der Vögel, das Rauschen der Blätter oder des Windes. Aber schließlich hatte er nur noch auf seinen Herzschlag, sein Blut, seinen Magen gehört. Minutenlang blieb er wie angewurzelt auf der Stelle stehen. In dem Zustand hätte ihn ein Auto anhupen können, er hätte nichts gemerkt. Aber im Wald gab es ja keine Autos. So war er ein Meister im In-sich-Hineinhorchen geworden. Inzwischen ging er nur noch in den Wald, wenn er etwas zu erledigen hatte, Holz machen und so. Dafür saß er immer mehr vor dem Fernseher. Er hatte begriffen, dass er auch bei laufendem Fernsehprogramm allein seinem Körper zuhören konnte. Er hätte am Abend nicht sagen können, was für ein Programm den Tag über gelaufen war – so angestrengt und konzentriert horchte er in sich hinein und fühlte seinem Leben nach. Und antworten hätte er sowieso nur müssen, falls ihn jemand gefragt hätte. Aber niemand fragte ihn nach dem Fernsehen.
Als er noch in den Wald gegangen war, hatte der Vater oder die Tante schon mal wissen wollen, wo er denn gewesen sei oder ob er jemanden getroffen habe. Und er musste irgendwie antworten, musste sich eine Geschichte ausdenken, die das Fragen beendete. Nicht dass er lügen musste, quälte ihn, er redete einfach nicht gern in Gegenwart des Vaters. Schweigend lebten sie nebeneinanderher. Fernsehen war in Ordnung für einen Arbeitslosen. Da musste man nichts erklären. Also schaute er auf die Mattscheibe, horchte in sich hinein und versuchte, nicht an seine Mutter zu denken.
Auch wegen des Fernsehens steckte er jetzt in dieser ausweglosen Situation. Er hatte schon immer gerne gebastelt, kleine Holzfiguren geschnitzt, kaputte Geräte repariert, in aller Stille und mit voller Konzentration. Und dann war da dieser Film über einen österreichischen Briefbomber. So im Sommer vor zwei, drei Jahren. Der Film hatte ihn mächtig aufgewühlt. Er wollte gar nicht in sich hineinhorchen. Der Film wurde zuerst im österreichischen Fernsehen, danach in arte und dann im ZDF ausgestrahlt. Dem dritten Sendetermin hatte er regelrecht entgegengefiebert. Er zeichnete ihn auf Video auf. So etwas machte er sonst nie, aber er wollte die Möglichkeit haben, sich in die Details zu vertiefen. Deshalb hatte er die Anleitung des Videorekorders durchgearbeitet, den seit dem Tod seiner Mutter keiner mehr benutzte.
Er hatte beschlossen, Bomben zu basteln – wie der Mann im Film. Das war sein Ausweg. Dass der Film innerhalb von ein paar Wochen gleich dreimal lief, war ihm damals als Zeichen erschienen, als Aufruf, direkt an ihn gerichtet. Nicht nur dass er die Einsamkeit des Briefbombers verstehen und wirklich nachempfinden konnte, er war auch mächtig beeindruckt von seiner Gesamtleistung, dem großen Plan.
Frank Fuchs oder Martin Fechter, wie er im Film hieß, war ein Einzelgänger, ein Außenseiter wie er. Man hatte ihn nicht beachtet. Man wollte ihn nicht mittun lassen. Er aber hatte sich fast vier Jahre lang allein gegen die anderen und die Staatsmacht behauptet und viel Staub aufgewirbelt mit seiner Bombenserie. Die Leute versuchten nach den Anschlägen plausible Begründungen zu finden, Tatmotive zu verstehen. Sie suchten fieberhaft Schuldige, glaubten an politische Hintergründe, ja an ganze Terrorgruppen, die sich verschworen hätten, den Staat zu Fall zu bringen. Dass eine nachvollziehbare Erklärung fehlte, machte sie nervös. Und bei seiner Verhaftung stellte sich heraus, dass »nur« ein Einzeltäter hinter den Taten gesteckt hatte, der ziemlich unbeachtet vor sich hingelebt hatte! Seine Bilanz konnte sich sehen lassen: vier Tote und fünfzehn Verletzte, darunter der Wiener Oberbürgermeister. In den Behörden hatte damals regelrecht Panik geherrscht. Jeder konnte das nächste Opfer sein. Trotz des großen Aufwandes blieb die Fahndung lange erfolglos. Nur durch einen Zufall kam es überhaupt zur Verhaftung von Fuchs.
Allein gegen alle – das gefiel H. Ihn beeindruckte der Briefbomber aber auch durch seinen Abgang und die letzte Konsequenz des Selbstmordes. Noch in der Zelle hatte er sich erhängt, und das, obwohl er sich bereits bei seiner Verhaftung beide Hände weggesprengt hatte. Ein grandioser Ausweg tat sich da auf!
Auch er war allein, ohne Freunde. Keiner traute ihm was zu. Im Dorf hielt ihn jeder für einen harmlosen Faulpelz. Und vom Leiter des Pflegeheims, in dem er seinen Zivildienst abgeleistet hatte, war er schroff abgewiesen worden. »Der Staat hat kein Geld! Ich kann dich nicht bezahlen. Geh’ heim! Wir haben keine Stelle für dich«, hatte der im Vorübergehen zu ihm gesagt. Dabei hatte H. seinen ganzen Mut zusammengenommen, ihn abgepasst, angesprochen und gefragt, ob er über den Zivildienst hinaus weiter in der Pflege arbeiten dürfe.
Er liebte diese Arbeit. Mit den Alten konnte er völlig ungezwungen reden. Sie hörten zwar nicht immer zu, aber sie waren so dankbar – dankbar für die Zuwendung. Selbst wenn er seine Arbeit schweigend verrichtete, schienen sie ihn zu verstehen. Oft haben sie gelächelt. Manchmal erzählten sie aus ihrem Leben, gaben Geschichten zum Besten, über die er lachen musste oder die er staunend, mit offenem Mund vernahm. Er erfuhr Dinge, die ihm sonst niemand erzählt hätte. Zum ersten Mal fühlte er sich ins Vertrauen gezogen und akzeptiert.
Selbst mit den Kollegen war er zurechtgekommen. Nicht dass er viel mit ihnen geredet hätte. Aber sie hatten ihn – wie die Alten – so genommen, wie er nun mal war, vom Land, einfach, eher schweigsam. Niemand hatte sich an seiner etwas ärmlichen Kleidung, an seinen fehlenden Manieren gestört. Er hatte seinen weißen Pflegerkittel bekommenund er hatte sich wirklich bemüht. Sobald er den Kittel angezogen hatte, war er wie verwandelt. Er setzte ein Lächeln auf und freute sich auf die Arbeit. Nie in seinem Leben hatte er sich mehr angestrengt, alles so zu machen, wie man es ihm gezeigt hatte. Er hatte wirklich geglaubt, dass er es schaffen würde, dort zu bleiben.
Die Betreuten waren mit ihm zufrieden und die Kollegen auch. Nur das Geld fehlte. Es gab keine Stelle. Und da hörte die Freundlichkeit auf. Er musste seinen Kittel abgeben und keiner hatte mehr Zeit für ihn. Bei seinen zwei, drei Besuchen danach schien er nur noch zu stören. Man machte ihm keine Hoffnung. Er wurde lästig mit seinem traurigen Blick. Und er war längst ersetzt worden. Neue Pfleger, wahrscheinlich wieder Zivildienstleistende, liefen durch die Gänge. Sagten sie etwas zu ihm, dann höchstens: »Besuchszeit ist jetzt aber nicht!« Dabei war er doch gerade jetzt gekommen, um seine Hilfe anzubieten. Aber man brauchte ihn nicht. Aus und vorbei.
Später wurde ihm klar, dass diese Zeit den endgültigen Wendepunkt brachte. Selbst jetzt kurz vor Ende seiner Geschichte, im feuchtkalten Gras über den Häusern seiner Heimat, war er sich in diesem Punkt sicher. H. war kein großer Denker. Überlegungen wie »Was wäre, wenn …?« lagen ihm nicht. Aber dieses Zurückgewiesenwerden damals im Pflegeheim war eine klare und zugleich seine letzte Niederlage, der endgültige Beweis, dass er nicht dazugehörte. Er musste wieder zurück in sein kleines Dorf, zum Vater und der Tante, vor den Fernseher, in die Einsamkeit.
Der Vater arbeitete, aß, trank und schlief – immer in der gleichen Reihenfolge. Nur sonntags trank und schlief er vielleicht etwas mehr als sonst. Wenn er mal etwas fragte oder bat, wurde es rundum abgelehnt. Er war außerhalb des gewöhnlichen Tagesablaufes seines Vaters und deshalb lästig. H. hatte schließlich aufgehört, mit seinem Vater zu reden oder ihn irgendetwas zu fragen. Er hatte es oft genug erfahren müssen, wie er war. Er hatte seine Lektion gelernt. Jedes Wort war zu viel.
Nach der Hauptschule, die ihn immer gelangweilt hatte und die er nur mittelmäßig abgeschlossen hatte, lehnte der Vater seinen Wunsch nach einer Ausbildung ab. »Was brauchst du eine Lehre? Ich hab auch keine gemacht. Du musst nur was arbeiten, dann verdienst du schon was.« Aber seine zwei, drei Versuche, einen Gelegenheits- oder Hilfsarbeiterjob in der Umgebung zu finden, scheiterten – auch weil er nicht motorisiert war. Sein Vater hatte sich geweigert, ihm den Führerschein zu bezahlen. »Musst du dir selbst verdienen«, war sein einziger Kommentar. Deshalb hätte er zur Arbeitssuche nicht einmal groß herumfahren können, selbst wenn er gewollt hätte. Er war an sein Dorf, seine schrecklich kleine Welt gefesselt. Und er war nun mal keiner, der andere Leute gern um Hilfe bat. Genauso war es ihm mit dem Pflegeheim gegangen. Er hatte gehofft, sein Vater würde ein gutes Wort für ihn beim Heimleiter einlegen, den er vom Stammtisch her kennen musste. »Die zahlen doch eh nix. Was willst denn dort? Alten Leuten den Arsch auswischen?« Damit war die Sache für seinen Vater erledigt.
Tante Resi, die nach dem Tod seiner Mutter ins elterliche Haus eingezogen war und den Haushalt führte, war immer einer Meinung mit dem Vater. »Er bringt das Geld heim und schafft an, er ist der Mann im Haus«, war ihr Lieblingsspruch. H. schien es manchmal, als habe sie Angst vor dem Vater – wie früher seine Mutter. Im Grunde war die Tante für ihn nicht vorhanden. Er hatte sich von Anfang an geweigert, sie als Nachfolgerin seiner Mutter zu akzeptieren. Von seiner Mutter hatte er nur noch undeutliche Vorstellungen, aber er verehrte sie. Und er bedauerte ihren Tod. Er trauerte – fast vierzehn Jahre später – immer noch um sie. Wenn er je eine Chance gehabt hätte, dann durch sie. Da war er sich sicher. Er vermisste sie. Doch meist blockte er die traurigen Gedanken ab, zum Beispiel durch angestrengtes Verfolgen seines Herzschlages.
Aber heute, hier, auf der Wiese sitzend, kurz vor seinem Tod, erlaubte er sich, über sie nachzudenken, ihr nachzufühlen. Wie immer übermannte ihn tiefe Trauer. Er ließ seinen Kopf zwischen die von den Armen umfassten Knie sinken. Hier im Dunkeln sah niemand sein Gesicht. Er weinte. Nach ein paar Sekunden riss er sich zusammen, wischte die Tränen am Jackenärmel ab und zwang sich zur Ruhe. Er hatte heute noch eine Aufgabe zu erfüllen. Das war keine Zeit für zu viele Gefühle.
Im Grunde war seine Mutter genauso gescheitert wie er. Sie hatte versucht, ihm ein besseres Leben zu ermöglichen oder es ihm zumindest als Ziel zu zeigen. Sie war mit ihm in die Stadt gefahren, hatte ihm fremde Dinge in den Schaufenstern erklärt, ihm gezeigt, was möglich wäre, wenn er sich nur genügend anstrengte. Er war damals erst sieben oder acht Jahre alt, aber sie wollte seinen Ehrgeiz wecken. So schwärmte sie vor einer Bank über das schöne Leben eines Bankangestellten, lobte vor einer Behörde das geregelte und abgesicherte Arbeiten eines Beamten und so weiter, und so weiter. Seinetwegen hatte sie hitzige und laute Streitereien mit dem Vater gehabt. Für den waren das alles Flausen. Er hielt Ehrgeiz sogar für schädlich. »Steht uns nicht zu«, sagte er. »Bin auch ohne ganz gut durchs Leben gekommen. Außerdem schafft der das sowieso nicht! So verstockt, wie der ist.« Irgendwie hatte er das Gefühl, dass seine Mutter nur seinetwegen beim Vater geblieben war. Aber mit der Zeit verblassten die Situationen von damals in seiner Erinnerung mehr und mehr.
Genau erinnern konnte er sich an ihren Tod. Seine Mutter und er waren in der Stadt gewesen, hatten das neue Auto mit Einkäufen beladen und wollten nach Hause fahren. Richtig neu war der Wagen nicht, der gebrauchte Opel Kadett hatte schon fast fünf Jahre auf dem Buckel. Trotzdem war der Kauf dieses Autos der ganze Stolz des Vaters gewesen. Einige Wochen lang war er entgegen seinen Gewohnheiten mit zum Einkaufen gekommen – so hatte er selbst fahren können. Für ihn und seine Mutter waren das keine einfachen Zeiten gewesen. Kein Spaziergang durch die Stadt, kein Eis im Café, keine Erklärungen – nur das Notwendige wurde gekauft. Aber bald hatte bei seinem Vater die alte Bequemlichkeit gesiegt und er war dieses Mal zu Hause geblieben, natürlich nicht, ohne zur Vorsicht zu mahnen (»Passt’s mir bloß auf!«) und mit fürchterlichen Konsequenzen zu drohen, falls mit dem Wagen was wäre (»Ich schlag euch alle windelweich!«).
Seine Mutter und er hatten sich auf der Fahrt über seinen Spleen lustig gemacht und gerätselt, was wohl die tatsächlichen Konsequenzen wären. Gewalttätig wurde er nur selten und in betrunkenem Zustand. Danach hatte er sich immer geschämt und entschuldigt. Gemeinsam lachten sie über ihre Angst. Trotzdem fuhr seine Mutter übervorsichtig. War eine Parklücke etwas eng, suchte sie lieber eine größere. Schien ihr an einer Kreuzung der Abstand zum Fahrzeug von rechts etwas klein, wartete sie lieber auf eine größere Lücke, bevor sie losfuhr. Ein paarmal wurde sie sogar angehupt wegen ihrer Fahrweise.
Später hatte er oft darüber nachgedacht, wie groß ihre Angst vor dem Vater wirklich war. Insgeheim hatte er ihm die Schuld am Tod seiner Mutter gegeben. Dann wieder glaubte er den Argumenten der Ärzte, die ein vorher nicht erkanntes Herzleiden festgestellt hatten. Manchmal gab er aber auch sich die Schuld, weil er zu klein war und ihr nicht hatte helfen können – weder gegen seinen Vater noch in der Situation auf dem Parkplatz. Aber was hätte er schon tun können? Es war doch nur ein kleiner Kratzer am Wagen gewesen. Der andere Fahrer war eindeutig schuld, er war viel zu schnell durch die Reihen des großen Supermarktparkplatzes gefahren. Er stritt die Schuld auch gar nicht ab. Aber seine Mutter stieß beim Anblick des Schadens ein herzzerreißendes »Mein Gott! Mein Gott!« hervor, brach zusammen und lag reglos auf dem geteerten Parkplatz. Der andere Fahrer und er standen schweigend – bald umgeben von anderen Gaffern – um seine Mutter herum und wussten nicht, was sie tun sollten. Erst nach einer Ewigkeit holte jemand einen Arzt und einen Rettungswagen. Aber da war seine Mutter schon tot.
Von diesem Ereignis hatte er sich nie mehr erholt. Er hatte es nicht verstehen können. Wurde noch schweigsamer und verschlossener als zuvor. Der Vater und die bald darauf ins Haus ziehende Tante schienen ihm nur unangemessen und viel zu kurz um seine Mutter getrauert zu haben. Nach ein paar Wochen ging alles wieder seinen gewohnten Gang. Der Vater ging zur Arbeit, aß, trank und schlief, ging wieder zur Arbeit, aß, trank und schlief und so weiter, und so weiter. Nur seine Mutter war tot. Er sah sie selbst jetzt noch ausgestreckt, mit dem Gesichtnach unten, auf dem Parkplatz liegen, ein Bild, das immer wieder hervorkam, wenn er das Verdrängen vergaß. Neben seiner toten Mutter stand er, ein kleiner Junge, mit weit aufgerissenen Augen, unfähig, auch nur zu weinen.
Mit diesem Ereignis war der heutige Tag vorgezeichnet. Natürlich hätte er einen besseren Schulabschluss machen können, hätte er im Pflegeheim eine Stelle bekommen können, hätte er den Film über den Briefbomber nie zu Gesicht bekommen müssen, aber alles wäre nur möglich´gewesen, wenn seine Mutter bei ihm geblieben wäre und auf ihn aufgepasst hätte. So aber nahmen die Dinge ihren Lauf, ohne Hoffnung, zielgerichtet seinem Ende entgegen. Spätestens mit der ersten eingeworfenen Briefbombe gab es keinen Weg zurück. Er erinnerte sich genau an den Postkasten auf einem belebten
Platz, mehrere Gemeinden von zu Hause entfernt, an seine zitternde Hand, das Geräusch des fallenden Umschlags, Stolz und Erleichterung auf dem Nachhauseweg mit dem Rad. Er erinnerte sich an die vielen vergeblichen Versuche, eine Detonation zu erzeugen, die einsamen Bastelstunden in seinem kleinen Zimmer, die Sprengexperimente
auf dieser Wiese, die Mühen, an Feuerwerkskörper zu kommen. Er sah sich angstvoll und ungeschickt in Nachbarhäuser und allein stehende Gehöfte in der Umgebung einbrechen, um an Geld zu kommen. Seine Einkaufstouren, zu Fuß oder mit dem Rad, bis nach Österreich und in die Tschechei hatten manchmal mehrere Tage gedauert. Mit einem Mal war er doch noch herumgekommen – und die vielen Geschichten und Ausreden, die er dafür hatte erfinden müssen!
Er erinnerte sich an jeden Moment. Alles hatte er allein gemacht und dabei nach außen hin den völlig Unbeteiligten gegeben, ferngesehen, viel geschlafen. Ergab sich die Gelegenheit, war er seiner Passion nachgegangen, voll konzentriert und effektiv. Er hatte in seinem Zimmer an neuen Briefbomben gebastelt und seine Fertigkeiten verbessert. Es ging darum, die größte Explosivkraft in möglichst unauffälligen Briefen zu erreichen. Seine ganze Energie hatte er in das Projekt seines Lebens gesteckt. Es sollte sein Leistungsnachweis werden, sollte zeigen, zu was er fähig war, zu was er fähig gewesen wäre – wenn man ihn nur gelassen hätte.
Sein Ende war ihm damals schon klar. Vielleicht war das ja auch das eigentliche Ziel. Noch bevor er die erste Briefbombe auf die Reise schickte, hatte er die Gaskartusche, die jetzt an seinem Körper hing, mit Sprengstoff gefüllt. Er wollte mit möglichst vielen Explosionen möglichst viel Chaos in diesem System erzeugen, das ihn nicht brauchte, zu dem er nicht gehörte, das ihn übersah. Dann würde er sich verabschieden – wie der österreichische Briefbomber im Film. Aber er würde sich nicht erwischen lassen, sondern sich vor seiner Verhaftung in die Luft sprengen.
Jetzt, hier in den letzten Momenten konnte er es sich ja eingestehen – er wollte besser sein als sein Vorbild. Aber das hatte er nicht geschafft. Er hatte es nur auf neun Briefbomben gebracht, dabei nur eine Leichtverletzte hinterlassen und war schon in die Enge getrieben.
Seine Entlarvung und Verhaftung stand unmittelbar bevor. Noch am Vormittag hatte er sich vergewissert, wie hoch die Beteiligung am Massengentest war, den die Polizei zur Ergreifung des Briefbombers durchführte. Trotz ihres Geschimpfes auf die staatliche Willkür waren die meisten zur Speichelentnahme gekommen. Lange Schlangen standen vor der Turnhalle, in der die Tests genommen wurden. Alle Männer zwischen siebzehn und siebzig aus der Großgemeinde – immerhin zweitausenddreihundert – waren schriftlich zum größten Massengentest der bayerischen Geschichte geladen worden – auch er. Niemand hätte am Test teilnehmen müssen. Aber sie hatten nichts zu verbergen und sie wollten nicht in Verdacht geraten. Irgendwie hatte er insgeheim gehofft, dass sie sich mit dem Briefbomber solidarisieren und nicht erscheinen würden. Hatte doch sogar der Vater der Tante erzählt, dass im Wirtshaus viele der Meinung wären, dass es denen dort oben ganz recht geschehe, wenn sie ein wenig Angst vor ihren Untergebenen, dem Volk, hätten. »Der soll ruhig weitermachen. Dann haben sie wieder mehr Respekt vor uns«, hätte einer gesagt. »Die kannst du doch alle in einen Sack stecken und draufhauen – du triffst nie den Falschen. « Trotz der Stammtischreden trotteten sie alle brav zum Test – und lieferten ihn damit seinem Schicksal aus.
Bei einem Einbruch vor zwei Jahren hatte er sich an einer Scheibe geschnitten. Das Blut und die Speichelreste auf einem der Briefumschläge stimmten überein. Die Einbrüche hatte er unvorsichtigerweise alle in seiner Heimatgemeinde begangen. Die Fahndungsschlinge zog sich unaufhaltsam um ihn zusammen. Beim Anblick der Warteschlangen war klar: »Sie werden mich kriegen!«
Er hätte verschwinden, untertauchen können, aber er wollte nicht. Wohin auch? Er wollte seinen Plan zu Ende bringen, das Projekt seines Lebens zu Ende bringen. Seine Ausgrenzung, seine Einsamkeit war nun vollkommen.
Der Vater, die Tante, die Nachbarn, alle, die ihn zu kennen glaubten, würden grenzenlos erstaunt, ungläubig, fassungslos auf sein Ende reagieren. Mit einem Mal würden die begreifen, dass es einen H. gab, der ihnen völlig unbekannt war. Sie würden sich fragen, wie es so weit hatte kommen können, würden über Krankheiten spekulieren und nach einem Auslöser, einem Grund für seinen vermeintlichen Hass suchen. Einen terroristischen Hintergrund würden sie in seinem Fall bald verwerfen. Dazu hatte er zu wenig hinterlassen, zu wenig gesagt und nichts geschrieben. Bei ihm gab es keine »bajuwarische Befreiungsarmee«, keine Bekennerschreiben, keine falsch gelegten Spuren wie damals in Österreich. Die Adressaten seiner Briefbomben hatte er ohne große Hintergedanken aus einem Staatsbürgerhandbuch entnommen, auf das er bei einem seiner Einbrüche gestoßen war. Kein persönliches Motiv, kein aufgestauter Hass steckte dahinter. In diesem Punkt hatte er sich einfach an sein Vorbild gehalten. Er kannte keinen dieser Politiker und Amtsträger und er wollte auch keinen kennenlernen. Sie hatten nichts mit ihm zu tun und er nichts mit ihnen.
Aber nicht nur das würden sie nicht verstehen. Nie würden sie auf die Idee kommen, dass er einfach nur getan hatte, was er mit seinen Möglichkeiten tun konnte. Er hatte sein Leben gelebt, das Leben eines Außenstehenden, Nichtdazugehörenden. Er hatte einfach nicht dazugepasst. Er stand allen nur im Weg und hatte keine Aufgabe in ihrer Welt. Sie würden sich nie vorstellen können, dass er eigentlich ganz ruhig und einsichtig aus seinem Leben schied, dass er ihnen nur aus dem Weg gehen wollte und sich einfach zurückzog, dass er ihnen auf seine Weise sagen wollte: Seht her, jetzt bin ich weg.
Den heimlichen Wettbewerb mit dem österreichischen Briefbomber, dem einzigen auf seiner Seite stehenden Menschen, hatte er verloren. Aber das kümmerte ihn jetzt nicht mehr. Der war ja auch schon tot. Er, für sich, hatte getan, was er konnte. Er hatte allen gezeigt, wozu er fähig gewesen wäre, er hatte eine gewisse Berühmtheit in ihrer Welt erlangt, hatte für kurzzeitige Unruhe in erstarrten und selbstzufriedenen Amtsstuben gesorgt, hatte riesige und teure Polizeiaktionen ausgelöst – was hätte er mehr gekonnt?
Langsam, mit großer Sorgfalt und ohne zu zittern, betätigt er mit der rechten Hand das Feuerzeug, erhebt sich, schiebt die Gaskartusche mit der Linken wieder vor seinen Bauch, blickt mitleidig auf sein Dorf, streckt die kleine Flamme kurz gen Himmel und führt sie dann entschlossen und lächelnd zur Zündvorrichtung.
Eine heftige Explosion schleudert ihn zwei Meter nach hinten gegen den Hang. Er fühlt einen stechenden Schmerz in der Brustgegend. Flammen versperren ihm den Blick aus seinen weit aufgerissenen Augen in den Himmel. Ein letztes Mal hört er sein Herz schlagen. Kein Ich und Ihr mehr.
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